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Schule für Flüchtlinge – Original‐Text ‐ 

 „Mein Karriereziel war es“, setzt er noch einmal an, „eine Schule ins Leben zu rufen, in die Lehrer und  Schüler gerne gehen. Und das hab’ ich geschafft.“ Für seine Gabe, andere zu motivieren und zu bestärken,  hat sich der Pädagoge eine besonders hilfsbedürftige Zielgruppe ausgesucht: unbegleitete, minderjährige  Flüchtlinge zwischen 16 und 21 Jahren. Sie kommen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Somalia, viele  haben auf der oft monatelangen Flucht Schlimmes erlebt und sind traumatisiert.  „Kopf hoch“ heißt die erste Lektion an der im Jahr 2000 gegründeten „Schlau‐Schule“ in München, das  Kürzel steht für „schulanalogen Unterricht“. Für jugendliche Flüchtlinge ist sie die einzige Bildungschance,  denn für staatliche Schulen sind sie schon zu alt. „Sobald die Schüler Vertrauen fassen, geht alles von ganz  allein“, sagt Stenger. Er ist selbst immer wieder erstaunt, was die Flüchtlingskinder – viele von ihnen sind  Analphabeten und wohnen in überfüllten Lagern – alles schaffen: In zwei oder drei Jahren lernen sie flie‐ ßend Deutsch und saugen so viel Stoff in sich auf, dass sie die Hauptschulprüfung machen können. Fast  alle bestehen. Das Erfolgsrezept der Schlau‐Schule sind kleine Klassen. Engagierte und speziell fortgebil‐ dete Lehrer und Sozialpädagogen helfen ihren Schützlingen, Probleme und Krisen zu bewältigen. Ein kur‐ discher Junge aus dem Nordirak etwa erhielt täglich Drohanrufe von seinem Vater. Wenn er kein Geld  schicke, schlage er die Mutter. Als die Lehrer davon Wind bekamen, besorgten sie dem Jungen zu seinem  eigenen Schutz eine neue Handynummer. Sie sprachen ihmMut zu und unterstützten ihn ganz besonders  bei seinem Endspurt: Drei Monate später hatte er den Hauptschulabschluss in der Tasche.  „Die müssen wissen, dass wir auf ihrer Seite stehen, auch wenn es eng wird“, sagt Stenger. Besonders eng  war es, als zum ersten und bisher einzigen Mal eine Schülerin abgeschoben werden sollte. Der Schulleiter  setzte alle Hebel in Bewegung, schaltete Presse, Politik und Prominenz ein, um das Mädchen aus Togo vor  der Abschiebung zu bewahren. „Wir haben sie in letzter Minute aus dem Flieger geholt. Zur Not hätte ich  mich ans Fahrgestell gefesselt.“ Da blitzt sie durch, die Radikalität, die man braucht, wenn man die Welt  verändern und ein bisschen gerechter machen will.  Die staatlich anerkannte Privatschule finanziert sich durch öffentliche Mittel, Spenden, Stiftungen und  Sponsoren. 300 Schüler besuchen sie derzeit. Zusätzlich kümmert sich das 40‐köpfige Kollegium um die  Nachbetreuung von 75 Ehemaligen, die eine Ausbildung machen oder eine weiterführende Schule besu‐ chen. Manche schaffen sogar das Abitur. „Wir müssen den Flüchtlingskindern nur eine Chance geben. Sie  nutzen sie.“ Diese Botschaft will Michael Stenger im ganzen Land verbreiten. Im vergangenen Jahr hat er  die Schulleitung abgegeben, um sich ganz der politischen Lobbyarbeit für Flüchtlinge zu widmen. Der Mo‐ tivationskünstler wünscht sich, dass sein Modellprojekt auch in anderen Großstädten Schule macht. Be‐ darf gibt es überall.

© nat verlag 2016 

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