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Lebenswege und neue Anfänge: Zugbegleiter

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Prestigeverlust? Kann ich nicht erkennen

Meine neuen Kollegen wundern sich, dass ich ausgerechnet Zugbegleiter – ich nenne mich „Schaffner“ – geworden bin. Aber wenn ich ihnen dann erzähle, was ich in der Finanzbranche erlebt habe und dass ich manchmal 60 Stunden gear- beitet habe, dann verstehen sie es. Meine Fami- lie ist begeistert von meinem neuen Job, weil sie ja gesehen haben, wie es mir zuletzt ging. Auch mein Sohn, er ist 14, findet meinen Beruf super. Nein, ich kann keinen PresƟgeverlust erkennen, weil ich jetzt „nur“ Schaffner bin. Mein Gehalt ist zwar etwas geringer, aber ich kann besser planen, weil es regelmäßig kommt, ohne Provisionsan- teil. Dafür ist die Arbeit anstrengend. Viel Laufen, viel Stehen. Am Anfang kriegt man einen kräŌi- gen Muskelkater in den Waden, weil man ständig das Gleichgewicht halten muss. Und es verlangt einem schon einiges ab, konzentriert Hunderte Fahrscheine zu prüfen. Es macht mir aber auch Freude. So freiheitsliebend ich bin – ich schätze klare Regeln. Mir gefällt die Uniform samt Dienst- mütze. Damit begegnet man mir mit mehr Respekt.

Auf dem Zug herrscht eine ganz spezielle Atmo- sphäre, und man lernt ständig Leute kennen. Da gibt es die WerktäƟgen morgens um fünf, die hängen sich ihre BahnCard 100 oder ihre Dauerkar- te um den Hals und schlafen. Dann gibt es die Reise- gruppen, die einen zu einem Glas Prosecco verfüh- ren wollen. Aber da bin ich eisern: 0,0 Promille sind Pflicht. Konflikte gibt es selten. Am Tag habe ich mit etwa 500 Fahrgästen zu tun, wenn sich davon drei mal ein bisschen daneben benehmen, ist das schon viel. Wenn es sein müsste, würde ich im Extremfall auch vonmeinemHausrecht Gebrauchmachen. Das kommt aber prakƟsch nie vor. Im Gegenteil: Man- che bedanken sich sogar beim Aussteigen für meine Freundlichkeit und sagen, dass sie sich gut informiert gefühlt haben. Das ist für mich das höchste Lob. Für die Kleinen habe ich extra „Kinderfahrscheine“ dabei, das hat schon manche SituaƟon entspannt. Bislang habe ich es noch keine Sekunde bereut, dass ich die Weiche in meinem Leben umgestellt habe.

© nat verlag 2015

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