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Lebenswege und neue Anfänge: Zugbegleiter
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Finanzbeamter wird Zugbegleiter
Silvester habe ich beschlossen umzusaƩeln. Ein Freund haƩe gehört, dass die Bahn Zugbegleiter sucht. Es ging ruckzuck: Onlinebewerbung, dann Telefoninterview, schließlich Vorstellungsgespräch, medizinisch-psychologischer Eignungstest, danach die Ausbildung mit sieben Prüfungen, vier Lerner- folgskontrollen und vier Einweisungsfahrten. Den Stoff, für den junge Menschen in der Ausbildung sechs Monate haben, haƩen wir in wenigen Wo- chen zu absolvieren, das war nicht ohne. Der Lohn ist, dass ich jetzt fahren darf – mit der Betonung auf „darf“. Denn mir macht die Arbeit aus ƟefemHerzen Freude. Das war in meinem Leben nicht immer so. Mit 20haƩe icheine Lehre als Bankkaufmannbegon- nen. Dann arbeitete ich fast ein Vierteljahrhundert in der Finanzbranche. Zuerst bei einer Direktbank als „Finanzberater Vermögen und Vorsorge“. Später bei einem großen Versicherungskonzern, auch da haƩe ich den Kunden Finanzprodukte zur Altersabsiche- rung schmackhaŌ zu machen. Grundgehalt 2900 Euro bruƩo, aber 50 Prozent davon musste ich auf Ertragsbasis erwirtschaŌen – ohne Betrug oder gro-
ßes Glück prakƟsch unmöglich. Auf Betrug lasse ich mich nicht ein, und das Glück war mir nicht so hold. Der Anteil derjenigen, die dann tatsächlich Verträ- ge abgeschlossen haben, lag bei mir im Promille- bereich. Manche zahlten auch einfach nicht. Dann musste ich dem Konzern die Provision zurückerstat- ten. In manchen Monaten haƩe ich deswegen nur einen dreistelligen NeƩolohn auf meinem Konto. Oder bekam mal eben fünf Urlaubstage gestrichen. Für mich lag das nah an der organisierten Kri- minalität. Wenn ich in diesen Jahren mal mei- ne Eltern besucht habe, konnte ich im Grun- de nur noch schlafen. Das passiert, wenn die Freude fehlt, der Sinn der Arbeit: Entweder man greiŌ zu Drogen, in welcher Form auch im- mer, man wird sarkasƟsch oder wird depressiv. Bei der Bahn dagegen muss ich niemanden zu etwas überreden, was er eigentlich gar nicht will. Wenn die Reisenden und ich in einen Zug einsteigen, dann wird so was wie ein Beförderungsvertrag ge- schlossen. Das ist was Reelles. Und was Sinnvolles.
© nat verlag 2015
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