Lexikalisch-semantische Störungen - Begleittext
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Theoretischer Hintergrund
Innerhalb der modernen linguistischen Lexikontheorien herrscht Konsens über die psychologische Realität eines se- mantischen Lexikons bzw. über die Festschreibung der semantischen Ei- genschaften im Lexikoneintrag eines Worts der sogenannten offenen Klasse, doch weiß man noch wenig über die strukturelle Organisation interner se- mantischer Kenntnissysteme, und ent- sprechend heterogen stellt sich die ak- tuelle Forschungslage dar. Hinsichtlich der Ursachen semantischer Störungen bei Aphasie kann man nach wie vor zwei theoretische Positionen unterscheiden, die kontrovers diskutiert werden: der eine Ansatz sieht die Ur- sachen des semantischen Defizits in einer Zugriffsstörung zu einem an sich intakten System semantischer In- formationen (vgl. hierzu vor allem pri- ming -Studien von Blumstein et al., 1982; Milberg & Blumstein, 1981; Mil- berg et al.,1987), die andere Hypothese erklärt die Störung mithilfe defizitärer semantischer Repräsentationen oder einer strukturellen Desintegration des semantischen Lexikons (z.B. Good- glass & Baker, 1976; Stachowiak, 1979). Eine zweite Kontroverse betrifft die Art der Repräsentation semantischen Wis- sens und damit auch die Frage nach den strukturellen und operativen Eigen- schaften der Suchprozesse und Zu- griffsroutinen, mithilfe derer diese Infor- mationen verfügbar gemacht und ver- arbeitet werden. Vertreter des Merk- malmodells (s. Smith et al., 1974) ge- hen davon aus, daß sich die Bedeutung eines Wortes aus semantischen Merk- malen zusammensetzt, wobei jedes einzelne einen Bestandteil der Wortbe- deutung ausdrückt. Diese Infor- mationseinheiten sind allerdings nicht
alle gleichermaßen relevant für ein be- stimmtes Konzept, sondern einige sind zentral, andere eher peripher. Zentral sind dabei all diejenigen Merkmale, welche einen definitorischen Wert für die Wortbedeutung haben, peripher die eher zufälligen (vgl. Smith et al., S.216). Hinsichtlich der Wertigkeit die- ser Merkmale besteht ein Kontinuum, d.h. es gibt keinen prinzipiellen oder formalen Unterschied zwischen ihnen, vielmehr kann selbst bei nah verwand- ten Konzepten, die zahlreiche Merkma- le teilen, ein und dasselbe Bedeu- tungsmerkmal im einen Fall zentraler sein als im anderen. Welchen Rang ein bestimmtes Merkmal einnimmt, bemißt sich am Grad seiner Relevanz für das betreffende Konzept. Dies hat den Vor- teil, der in mittlerweile paradigmati- schen Experimenten bestätigten An- nahme gerecht zu werden, daß unsere Konzepte nicht nur hierarchisch organi- siert sind, sondern daß innerhalb einer semantischen Kategorie manche Kon- zepte prototypischer sind als andere (vgl. Rosch et al., 1976; Leuninger et al., 1987). So ist beispielsweise zumin- dest für Sprecher des Deutschen ein Ball nachgewiesenermaßen ein beson- ders typisches Exemplar der semanti- schen Kategorie Spielzeug ; der Hai dagegen ist ein sehr viel weniger proto- typischer Vertreter der Bedeutungska- tegorie Fisch als z.B. Karpfen und Fo- relle . Innerhalb des Merkmalmodells hätte der Begriff Fisch etwa die folgen- de Merkmalsstruktur: (LEBENDIG) (KANN SCHWIMMEN) (HAT SCHUPPEN). Diese Merkmale sind vermutlich auch für Konzepte wie Forel- le oder Karpfen zentral, während für die Wortbedeutung von Hai wohl eher Merkmale wie (GEFÄHRLICH), (DREIECKSFLOSSE) oder (GEBISS) definitorisch sind.
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