Menschen - Preview
Lebenswege und neue Anfänge: Kreuzbandriss
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Mama, was hat der Mann? Ein paarMeter vomCafé enƞernt stehen zwei Münz- telefone. Ich haƩe mich oŌ gefragt, wieso es diese Münztelefone überhaupt noch gibt. Nun erfuhr ich warum: Im Fünfminutentakt kamen entweder alte Frauen oder ausländische Männer und telefonier- ten, aber immer nur ganz kurz. Sie haƩen kleine Zet- telchen mit Telefonnummern dabei, die sie wählten. Sie sagten kurz etwas, legten wieder auf und gingen weiter. Eine jener überspannten GroßstadtmüƩer lächelte mich zu meiner Verwunderung an. Eher aus Mitleid als aus Sympathie, wie ich dann merk- einzuschätzen: Es ist die Angst der Gebrechlichen vor noch mehr Verletzung. Mir wurde klar: Ich ma- che gerade eine Zeitreise, denn vermutlich wer- de ich in 40 Jahren so ähnlich durch die Welt ge- hen wie jetzt – nur ohne Aussicht auf Genesung. Am sechsten Tag nach der OP setzte ich mich auf dem Rückweg vom Ärztehaus auf halber Strecke in ein Café, weil das Bein mal wieder voll Blut ge- laufen und angeschwollen war. Das Bein legte ich auf einen zweiten Stuhl. Ich schaute meinen Oberschenkel hypnoƟsierend an und versuch- te kraŌ meiner Gedanken, ihn zur KontrakƟon
te. Ihr Kind fragte: „Mama, was hat der Mann?“ Am zehnten postoperaƟven Tag nahm ich die letz- te in der Packung verbliebene SchmerztableƩe und kam auf zwei für mich eher ungewöhnliche Ideen: Ich wollte mal wieder Doris Day hören und Goethes „Faust“ lesen. Natürlich fragte ich mich, ob das mit dem Diclofenac zusammenhängt, konnte aber in der wirklich langen Liste der Nebenwirkungen – die fängt bei Magengeschwüren an, führt zu Gedächt- nisstörungen und hört bei Alpträumen auf – nichts finden. Ich habe extra noch mal nachgesehen. zu bewegen. Nichts. Ich murmelte: „Beweg dich. Bewe-he-g dich!“ Und dann tatsächlich, ein kur- zes Zucken, das Comeback meines Oberschen- kels! Ich belohnte mich mit einer SchmerztableƩe. Mir fiel auf, dass ich schon sehr lange nicht mehr allein in einem Café gesessen und den Menschen beim Menschsein zugesehen haƩe, einfach so. Frauen mit zu großen Sonnenbrillen schwebten auf Gazelle-Rädern vorbei; herrenlose Hunde streunten wie in einemDriƩweltland umher; eine Reisegruppe schlenderte durch mein Blickfeld und redete in ei- ner Sprache, die ich keinem Land zuordnen konnte.
© nat verlag 2015
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